Johanna - Eine Liebe im Krieg
Das ist Johanna. |
"Schau mal!", sagt meine Oma und zieht eine Postkarte aus
ihrer Schürze. "Hab ich heute gefunden." Sie reicht mir die Karte. "Das
ist Kassel. Da hab ich mal gelebt."
Ich sehe mir das Bild an.
"Meine schönste Zeit", sagt sie, "hatte ich in
Kassel." Und ihre Augen leuchten. Sie erzählt mir, dass sie damals nach
Kassel ging, um zuerst in einer Gaststätte und dann bei einer Arztfamilie zu
arbeiten. Sie war gerade zwanzig Jahre alt. "Bei dem Arzt hatte ich ein
eigenes Zimmer mit Ofen, durfte mit der Familie zusammen essen und mir meine Arbeit
frei einteilen. Das war toll."
Schlüsselklappern. Da ist jemand im Treppenhaus. Schritte sind zu hören
und das Knarren der Haustür. Dann ist es wieder still.
Ich lege die Postkarte auf den Tisch. "Und was hast du in deiner Freizeit
gemacht?"
"Oh, ich bekam am Mittwochnachmittag und am Sonntagnachmittag frei.
Dann besuchte ich meine Schwester Gretchen oder ging mit meiner Freundin in die
Gastwirtschaft. Wir hatten immer viel Spaß mit den Soldaten." Sie feixt.
"Dann hieß es, man sollte den Soldaten, die hier niemanden haben, zu
Weihnachten kleine Geschenke machen."
"Wann war das? Welches Jahr?", frage ich sie.
"Weihnachten 1942 war das. Ich machte auch ein Päckchen, legte ein
selbst gemaltes Bild mit hinein und brachte es zur Flak." Unvermittelt
steht sie auf. "Ich hol mal was." Eilig verschwindet sie in der
Küche.
Während ich noch überlege, was sie mir zeigen will, kommt sie auch schon
wieder herein - in den Händen einen alten Koffer. Was da wohl drin ist? Schnell
schiebe ich Brot und Butter zur Seite, nehme ihr den Koffer ab und stelle ihn
auf den Tisch. Ein kurzer Handgriff und das Schloss springt auf. Ich erkenne
darin etliche Stapel grauer und brauner Briefumschläge. Sie sehen sehr alt aus,
teilweise zerrissen.
"Die wollte ich mir eigentlich nicht mehr ansehen.", meint sie
und ich merke, dass es ihr schwer fällt, die Umschläge herauszunehmen.
"Die sind alle von deinem Opa." Dann drückt sie mir einen losen Brief
in die Hand und sagt: "Da haben wir uns kennengelernt."
Ich falte das Papier auseinander. "Das ist die altdeutsche Schrift,
nicht wahr? Sütterlin." Es ist kaum zu entziffern, aber ich versuche es.
"Liebes Fräulein Unbekannt!
Wünsche Ihnen im neuen Jahr von
ganzem Herzen das Beste.
Hoffentlich sind Sie gut ins neue
Jahr gekommen. Von mir kann ich nicht viel sagen, habe am 31.12., wo ich aus
dem Lazarett entlassen wurde, wegen Fieber wieder liegen müssen.
Liebes Fräulein Unbekannt,
verzeihen Sie mir bitte wegen der Schrift, da es in meinem Zustand leider nicht
anders möglich ist. Sie glauben nicht, was Sie mir mit diesem Geschenk für eine
große Freude bereitet haben.
Hierfür sage ich Ihnen meinen
herzlichsten Dank. Ihre Karten werde ich mir als Andenken aufheben, die Sie
kleine Künstlerin sehr gut hingekriegt haben. Da ich selbst Maler von Beruf
bin, habe ich mein fachmännisches Urteil abgegeben.
Liebes Fräulein Unbekannt,
sicherlich haben Sie doch schon mehrmals vielleicht auch Bilder gemalt, da mein
Urteil über diese Karten dies festgestellt hat. Hier in meinem Zimmer habe ich
auch ein paar Bilder hängen, die ich aus Langeweile gemalt.
Liebe kleine Künstlerin, sollten
Sie am Sonntag ein paar Minuten Zeit haben, würde es mich freuen, mich bei
Ihnen persönlich zu bedanken. Leider hält mich das Bett momentan noch fest,
sonst hätte ich mich auf den Weg gemacht, mich persönlich zu bedanken.
Mit nochmals recht vielen Dank und
den besten Grüßen verbleibe ich, Ihr unbekannter Soldat Karl Haake."
(Brief von
Karl Haake aus einem Lazarett in Kassel an Johanna,
Januar
1943)
Sie erzählt mir, dass sie ihn daraufhin besuchte.
"Wir redeten ganz lange, gingen spazieren und ich bekam Blumen von
ihm.", meinte sie verschmitzt.
So begann ihre Liebesgeschichte.
Karl in Delitzsch. |
Ich sehe mir die anderen Briefe an, es müssen weit über hundert sein.
Sie hat sie all die Jahre aufgehoben. Mir wird klar - diese Briefe sind alles,
was ihr von ihm geblieben ist.
Sie seufzt. Mit trauriger Stimme schildert sie mir, wie sie damals ihr
geliebtes Kassel verlassen musste. Karl brachte sie nach Delitzsch, weil Kassel
sehr stark bombardiert wurde und er, wie sie meint, auch sehr eifersüchtig war.
In Delitzsch lebte sie für die erste Zeit bei Karls Schwester in einem winzigen
Zimmer. "Das war furchtbar. Kein Platz. Wir gingen uns gegenseitig auf die
Nerven." Im Oktober 1943 heiratete sie dann endlich ihren Karl und im
Januar 1944 kam ihr erstes Kind zur Welt - ein Mädchen. "Er war immer nur
auf Urlaub da. Das war nicht leicht." Sie schüttelt mit dem Kopf.
"Ich musste allein mit dem Kindchen zurechtkommen. Es gab nichts zu essen.
Und auch keine Kohlen zum Heizen. Ich zog in eine kleine Wohnung. Da waren
Löcher in den Wänden und jede Menge Ungeziefer. Ich nähte Tag und Nacht, um
etwas zu Essen zu bekommen und klaute Kohle von den Zugwaggons. Das waren
schwere Zeiten. Schwere Zeiten." Sie schließt den Koffer wieder. "Ich
wurde ständig bestohlen und belogen. War hier ganz allein."
Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich das alles berührt. Unglaublich.
Jetzt verstehe ich, warum sie manchmal so ist, wie sie eben ist.
"Und
dann?" Ich möchte mehr wissen.
Sie
sagt, dass Karl an Weihnachten 1944 das letzte Mal bei ihr war. "Bleib so
tapfer, wie du es bis jetzt warst!" - das waren seine Abschiedsworte,
bevor er wieder an die Front nach Oberschlesien musste. Damals war sie wieder
schwanger. Im März 1945 bekam Johanna dann den letzten Brief. Kurz vor
Kriegsende.
Der letzte Feldpostbrief. |
"...
ach wie schön müsste das sein, jetzt für immer bei euch bleiben zu können, euch
beiden Lieben immer bei mir zu haben ... ich schreibe euch immer so viel ich
kann, damit du dir keine Sorgen machen brauchst, hoffentlich bekommst du auch
alle meine Briefe ..."
(aus einem Brief
von Karl Haake Feldpostnummer L 61264 Luftgaupostamt Dresden an Johanna,
März 1945)
Er kam nicht wieder.
Sie zeigt mir einige Briefe, die sie ihm geschrieben hatte. Sie kamen
ungeöffnet zurück.
Bis heute gilt Karl als verschollen. Niemand kann sagen, was mit ihm
passierte so kurz vor Kriegsende.
Erst jetzt wird mir bewusst, wie kurz die Zeit war, die diese beiden
Menschen miteinander hatten. Zwei Jahre und drei Monate. Und die meiste Zeit
war er im Krieg. Das ist verdammt kurz. Viel zu kurz.
Womöglich ist das auch der Grund, weshalb sie nie wieder einen Mann so
geliebt hat. Sie hatte bis heute keine wirkliche Chance mit allem
abzuschließen. Sie weiß nicht, ob Karl an der Front starb oder in russische
Gefangenschaft geriet. Jemand behauptete sogar, er wäre wieder gekommen und
würde jetzt woanders leben. Diese Ungewissheit ist grausam. Ihre junge Liebe
hatte ja im Grunde keine Chance.
Ein bedrückendes Gefühl. Unvorstellbar. Viel zu lange trägt sie das
alles schon mit sich herum. Und sie sprach nie darüber. Machte alles mit sich
selbst aus. Wie sie sich wohl fühlte damals, als ihr geliebter Karl nicht mehr
nach Hause kam. Keine Nachricht mehr. Und doch die Hoffnung, dass er eines
Tages vor ihrer Tür steht. Dann nur noch warten ... und warten ... und warten
...
"Jetzt weißt du mal etwas über deinen Opa.", sagt sie. In
ihren Augen kann ich ein wenig Erleichterung sehen. Dann greift sie nach der
Fernbedienung und drückt eines der kleinen Knöpfchen. "Es geht gleich los.
Unsere Freunde kommen gleich."
Die Serie hab ich völlig vergessen. Bin mir auch nicht sicher, ob ich
dem Geschehen im Fernsehen heute noch folgen kann. Ich sitze hier und spüre
diese Leere in mir. Als würde ich schweben. Als gäbe es kein hier und jetzt,
kein Morgen. Ich habe das Gefühl, Karl und Johanna ganz nah zu sein, als wäre
ich den beiden gerade begegnet. Sehe sie Hand in Hand durch die Straßen
schlendern. Verliebt und glücklich.
Vor mir liegen all die Briefe und ich spüre das Verlangen, sie zu lesen.
Ich will mehr wissen. Will alles wissen! Und ich weiß, dass es mich nicht
loslassen wird. Ich weiß, dass ich darüber schreiben muss!
Solche Geschichten sind es, die einen Menschen zu dem machen, was er
ist. Viel zu oft vergessen wir das. Ich sehe meine Oma jetzt nicht mehr nur als
einen alten Menschen, sondern eher als die junge Frau, die sie einmal war,
damals, als sie die Liebe ihres Lebens fand ...
Johannas Geschichte ist noch nicht
ganz erzählt. Nach diesem Gespräch ließ es mir keine Ruhe, ich wollte mehr
erfahren. Also setzte ich mich noch einige Male mit ihr zusammen und sie
erzählte mir aus ihrem Leben.
Aber das in meinem nächsten
Beitrag.
Ich hoffe, es hat Euch gefallen.
Vielen Dank fürs Lesen und bis bald.
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