Johanna - Eine Liebe im Krieg


Das ist Johanna.
  Es ist Dienstagabend und wie jeden Dienstag sitze ich hier bei meiner Oma Johanna gemütlich auf dem Sofa. Es ist schon dunkel draußen. Nur das gelbe Licht der Straßenlaternen schiebt sich durch den offenen Spalt der alten Holzjalousien. Auf dem Tisch vor uns stehen zwei Teller, eine Flasche Malzbier, Butter, Wurst und ein Kanten Brot. Gespannt warten wir auf eine neue Folge unserer Lieblingsserie 'Miami Vice'. Wie jeden Dienstagabend.
  "Schau mal!", sagt meine Oma und zieht eine Postkarte aus ihrer Schürze. "Hab ich heute gefunden." Sie reicht mir die Karte. "Das ist Kassel. Da hab ich mal gelebt."
  Ich sehe mir das Bild an.
  "Meine schönste Zeit", sagt sie, "hatte ich in Kassel." Und ihre Augen leuchten. Sie erzählt mir, dass sie damals nach Kassel ging, um zuerst in einer Gaststätte und dann bei einer Arztfamilie zu arbeiten. Sie war gerade zwanzig Jahre alt. "Bei dem Arzt hatte ich ein eigenes Zimmer mit Ofen, durfte mit der Familie zusammen essen und mir meine Arbeit frei einteilen. Das war toll."
  Schlüsselklappern. Da ist jemand im Treppenhaus. Schritte sind zu hören und das Knarren der Haustür. Dann ist es wieder still.
  Ich lege die Postkarte auf den Tisch. "Und was hast du in deiner Freizeit gemacht?"
  "Oh, ich bekam am Mittwochnachmittag und am Sonntagnachmittag frei. Dann besuchte ich meine Schwester Gretchen oder ging mit meiner Freundin in die Gastwirtschaft. Wir hatten immer viel Spaß mit den Soldaten." Sie feixt. "Dann hieß es, man sollte den Soldaten, die hier niemanden haben, zu Weihnachten kleine Geschenke machen."
  "Wann war das? Welches Jahr?", frage ich sie.
  "Weihnachten 1942 war das. Ich machte auch ein Päckchen, legte ein selbst gemaltes Bild mit hinein und brachte es zur Flak." Unvermittelt steht sie auf. "Ich hol mal was." Eilig verschwindet sie in der Küche.
  Während ich noch überlege, was sie mir zeigen will, kommt sie auch schon wieder herein - in den Händen einen alten Koffer. Was da wohl drin ist? Schnell schiebe ich Brot und Butter zur Seite, nehme ihr den Koffer ab und stelle ihn auf den Tisch. Ein kurzer Handgriff und das Schloss springt auf. Ich erkenne darin etliche Stapel grauer und brauner Briefumschläge. Sie sehen sehr alt aus, teilweise zerrissen.
  "Die wollte ich mir eigentlich nicht mehr ansehen.", meint sie und ich merke, dass es ihr schwer fällt, die Umschläge herauszunehmen. "Die sind alle von deinem Opa." Dann drückt sie mir einen losen Brief in die Hand und sagt: "Da haben wir uns kennengelernt."
  Ich falte das Papier auseinander. "Das ist die altdeutsche Schrift, nicht wahr? Sütterlin." Es ist kaum zu entziffern, aber ich versuche es.  

  "Liebes Fräulein Unbekannt!
Wünsche Ihnen im neuen Jahr von ganzem Herzen das Beste.
Hoffentlich sind Sie gut ins neue Jahr gekommen. Von mir kann ich nicht viel sagen, habe am 31.12., wo ich aus dem Lazarett entlassen wurde, wegen Fieber wieder liegen müssen.
Liebes Fräulein Unbekannt, verzeihen Sie mir bitte wegen der Schrift, da es in meinem Zustand leider nicht anders möglich ist. Sie glauben nicht, was Sie mir mit diesem Geschenk für eine große Freude bereitet haben.
Hierfür sage ich Ihnen meinen herzlichsten Dank. Ihre Karten werde ich mir als Andenken aufheben, die Sie kleine Künstlerin sehr gut hingekriegt haben. Da ich selbst Maler von Beruf bin, habe ich mein fachmännisches Urteil abgegeben.
Liebes Fräulein Unbekannt, sicherlich haben Sie doch schon mehrmals vielleicht auch Bilder gemalt, da mein Urteil über diese Karten dies festgestellt hat. Hier in meinem Zimmer habe ich auch ein paar Bilder hängen, die ich aus Langeweile gemalt.
Liebe kleine Künstlerin, sollten Sie am Sonntag ein paar Minuten Zeit haben, würde es mich freuen, mich bei Ihnen persönlich zu bedanken. Leider hält mich das Bett momentan noch fest, sonst hätte ich mich auf den Weg gemacht, mich persönlich zu bedanken.
Mit nochmals recht vielen Dank und den besten Grüßen verbleibe ich, Ihr unbekannter Soldat Karl Haake."
(Brief von Karl Haake aus einem Lazarett in Kassel an Johanna,
Januar 1943)

  Sie erzählt mir, dass sie ihn daraufhin besuchte.
  "Wir redeten ganz lange, gingen spazieren und ich bekam Blumen von ihm.", meinte sie verschmitzt.
  So begann ihre Liebesgeschichte.

Karl in Delitzsch.

  Ich sehe mir die anderen Briefe an, es müssen weit über hundert sein. Sie hat sie all die Jahre aufgehoben. Mir wird klar - diese Briefe sind alles, was ihr von ihm geblieben ist.
  Sie seufzt. Mit trauriger Stimme schildert sie mir, wie sie damals ihr geliebtes Kassel verlassen musste. Karl brachte sie nach Delitzsch, weil Kassel sehr stark bombardiert wurde und er, wie sie meint, auch sehr eifersüchtig war. In Delitzsch lebte sie für die erste Zeit bei Karls Schwester in einem winzigen Zimmer. "Das war furchtbar. Kein Platz. Wir gingen uns gegenseitig auf die Nerven." Im Oktober 1943 heiratete sie dann endlich ihren Karl und im Januar 1944 kam ihr erstes Kind zur Welt - ein Mädchen. "Er war immer nur auf Urlaub da. Das war nicht leicht." Sie schüttelt mit dem Kopf. "Ich musste allein mit dem Kindchen zurechtkommen. Es gab nichts zu essen. Und auch keine Kohlen zum Heizen. Ich zog in eine kleine Wohnung. Da waren Löcher in den Wänden und jede Menge Ungeziefer. Ich nähte Tag und Nacht, um etwas zu Essen zu bekommen und klaute Kohle von den Zugwaggons. Das waren schwere Zeiten. Schwere Zeiten." Sie schließt den Koffer wieder. "Ich wurde ständig bestohlen und belogen. War hier ganz allein."
  Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich das alles berührt. Unglaublich. Jetzt verstehe ich, warum sie manchmal so ist, wie sie eben ist.
  "Und dann?" Ich möchte mehr wissen.
  Sie sagt, dass Karl an Weihnachten 1944 das letzte Mal bei ihr war. "Bleib so tapfer, wie du es bis jetzt warst!" - das waren seine Abschiedsworte, bevor er wieder an die Front nach Oberschlesien musste. Damals war sie wieder schwanger. Im März 1945 bekam Johanna dann den letzten Brief. Kurz vor Kriegsende.

Der letzte Feldpostbrief.




  "... ach wie schön müsste das sein, jetzt für immer bei euch bleiben zu können, euch beiden Lieben immer bei mir zu haben ... ich schreibe euch immer so viel ich kann, damit du dir keine Sorgen machen brauchst, hoffentlich bekommst du auch alle meine Briefe ..."
(aus einem Brief von Karl Haake Feldpostnummer L 61264 Luftgaupostamt Dresden an Johanna,
März 1945)





  Er kam nicht wieder.
  Sie zeigt mir einige Briefe, die sie ihm geschrieben hatte. Sie kamen ungeöffnet zurück. 
  Bis heute gilt Karl als verschollen. Niemand kann sagen, was mit ihm passierte so kurz vor Kriegsende.
  Erst jetzt wird mir bewusst, wie kurz die Zeit war, die diese beiden Menschen miteinander hatten. Zwei Jahre und drei Monate. Und die meiste Zeit war er im Krieg. Das ist verdammt kurz. Viel zu kurz.
  Womöglich ist das auch der Grund, weshalb sie nie wieder einen Mann so geliebt hat. Sie hatte bis heute keine wirkliche Chance mit allem abzuschließen. Sie weiß nicht, ob Karl an der Front starb oder in russische Gefangenschaft geriet. Jemand behauptete sogar, er wäre wieder gekommen und würde jetzt woanders leben. Diese Ungewissheit ist grausam. Ihre junge Liebe hatte ja im Grunde keine Chance.
  Ein bedrückendes Gefühl. Unvorstellbar. Viel zu lange trägt sie das alles schon mit sich herum. Und sie sprach nie darüber. Machte alles mit sich selbst aus. Wie sie sich wohl fühlte damals, als ihr geliebter Karl nicht mehr nach Hause kam. Keine Nachricht mehr. Und doch die Hoffnung, dass er eines Tages vor ihrer Tür steht. Dann nur noch warten ... und warten ... und warten ...
  "Jetzt weißt du mal etwas über deinen Opa.", sagt sie. In ihren Augen kann ich ein wenig Erleichterung sehen. Dann greift sie nach der Fernbedienung und drückt eines der kleinen Knöpfchen. "Es geht gleich los. Unsere Freunde kommen gleich."
  Die Serie hab ich völlig vergessen. Bin mir auch nicht sicher, ob ich dem Geschehen im Fernsehen heute noch folgen kann. Ich sitze hier und spüre diese Leere in mir. Als würde ich schweben. Als gäbe es kein hier und jetzt, kein Morgen. Ich habe das Gefühl, Karl und Johanna ganz nah zu sein, als wäre ich den beiden gerade begegnet. Sehe sie Hand in Hand durch die Straßen schlendern. Verliebt und glücklich.
  Vor mir liegen all die Briefe und ich spüre das Verlangen, sie zu lesen. Ich will mehr wissen. Will alles wissen! Und ich weiß, dass es mich nicht loslassen wird. Ich weiß, dass ich darüber schreiben muss!
  Solche Geschichten sind es, die einen Menschen zu dem machen, was er ist. Viel zu oft vergessen wir das. Ich sehe meine Oma jetzt nicht mehr nur als einen alten Menschen, sondern eher als die junge Frau, die sie einmal war, damals, als sie die Liebe ihres Lebens fand ...

Johannas Geschichte ist noch nicht ganz erzählt. Nach diesem Gespräch ließ es mir keine Ruhe, ich wollte mehr erfahren. Also setzte ich mich noch einige Male mit ihr zusammen und sie erzählte mir aus ihrem Leben.
Aber das in meinem nächsten Beitrag.
Ich hoffe, es hat Euch gefallen.
Vielen Dank fürs Lesen und bis bald.


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